Die Wittenwiwerkuhle

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Es wird erzählt, dass vor langer Zeit auf dem Hofe des Bauern Stimberg (= Stemberg) in Riemke die Frau des Landwirts ein Kind zur Welt brachte, denn Hausgeburten waren damals noch die Regel. Kurze Zeit nach ihrer Niederkunft hielt sich die Bäuerin für mehrere Tage außer Haus auf. Doch hatte sie zuvor versäumt, den nach einer Geburt üblichen Kirchgang zu absolvieren. Zurückgekehrt saß die junge Mutter abends am wärmenden Stubenfeuer, als plötzlich zwei Witten-Wiwer zur Tür hereinkamen und die Frau mit Gewalt ergriffen, um sie in ihre Höhle zu entführen. Dort angekommen, verboten die Witten-Wiwer der Bäuerin jemals wieder aus der Höhlentür hinauszutreten - oder auch nur einen Blick hinaus zu tun. Ja, sie drohten der Frau sogar an, ihr den Hals zu brechen, falls sie die Anweisung missachte. Zu essen bekam sie ausschließlich die Speisen der Witten-Wiwer - Möhren, Äpfel, rohe Wurzeln und dergleichen. Sieben Jahre lang hat die Bäuerin ihr Schicksal ertragen müssen.

Als aber die Witten-Wiwer eines Tages einmal die Höhle verlassen hatten, konnte die Frau das Verlangen, ihre Kinder wiederzusehen und der langjährigen Gefangenschaft zu entfliehen, nicht mehr unterdrücken. Sie öffnete die Höhlentür, und kaum war sie ins Freie getreten, verloren die Witten-Wiwer ihre unheimliche Macht über sie. Sie hörte das Läuten der Bochumer Kirchenglocken. Dieser Klang war ihr noch sehr vertraut, trotz der langen Jahre ihrer Gefangenschaft. Nun erkannte die Bäuerin auch, dass der Ort ihres erzwungenen Aufenthaltes nicht allzu weit vom Hofe ihres Mannes entfernt lag. So eilte die Frau gleich nach Riemke hinab. Ihr Mann hatte aber indessen, da er seine Frau nach einer langen Zeit des Wartens für tot gehalten hatte, eine andere geheiratet. Als die Bäuerin die neue Frau ihres Mannes erblickte, setzte sie sich traurig und ohne ein Wort zu sagen an den Herd. Ihre Kinder erkannten sie sofort und sprangen freudig auf sie zu, worauf die Stiefmutter die Kleinen ärgerlich zurechtwies, sie sollten gefälligst von dem Bettelweib ablassen. »Wohl gehen sie mich mehr an, als dich!«, rief die Mutter daraufhin, denn die rüden Worte der neuen Frau ihres Ehemannes konnte sie nicht ertragen. In diesem Moment kam auch der Bauer ins Haus herein und erkannte völlig überrascht seine verschollene und tot geglaubte Ehefrau wieder. Natürlich schickte der Landwirt sie nicht wieder fort, sondern behielt sie neben der zweiten Frau im Haus - ja er war sogar froh, sie wiederbekommen zu haben.

Einige Jahre lebten die drei zusammen auf dem Hof; verwunderlich fand der Bauer nur, dass seine erste Frau seit ihrer Rückkehr nichts anderes als Apfelmus essen konnte. Abends nach ihrem anstrengenden Tagewerk spann die endlich freigekommene Bäuerin zum Dank für ihre Rettung Garn für zwei Altarlaken, die sie dann der Kapelle in Eickel bei Herne stiftete. Kurze Zeit darauf starb sie.

Anmerkungen

Es ist immer wieder faszinierend: Um auf den Pfaden alter Volkssagen zu wandeln, müssen Sie beispielsweise nicht erst nach Hameln reisen, um dort den Spuren des Rattenfängers nachzugehen. Auch wenn Sie im Ruhrgebiet wohnen, brauchen Sie nur einen Schritt vor die Haustür zu setzen, und schon sind Sie mitten in einer von sagen-haftem Geschehen durchwobenen Landschaft. Besonders interessant sind jene Sagen, die sich um die Wittenwiwerkuhle in Bochum-Riemke ranken. So heißt es nach einem alten Sagenbuch von 1859:

Am Tippelsberg bei Riemke liegt ein einzelner, 1825 eingerichteter Bauernhof, auf dem der Bauer Thiem (= Tiemann) wohnt. Unmittelbar an dem Gehöft befindet sich eine etwa zwanzig Fuß (ca. sechs Meter) hinabgehende Tiefung, in der eine schöne klare Quelle entspringt, ringsum umgeben von schönen Gehölzen. Diese Vertiefung nennt man die Wittenwiwerkuhle und erzählt, dass hier vor Zeiten die Witten-Wiwer gewohnt haben, die sich zuweilen auch sehen lassen. Vor 1825 war der Tippelsberg frei von Bebauung.

Die in der Sage enthaltene Ortsangabe zur Wittenwiwerkuhle interessierte den Herausgeber vor einiger Zeit sehr. Wo genau mochte die geheimnisvolle »Kuhle« gelegen haben?

Also machte sich der Herausgeber eines Nachmittags auf die Suche nach der seltsamen Vertiefung. Die sagenumwobene Wittenwiwerkuhle fand er zwar nicht, dafür aber einen alten Bauernhof an der Tippelsberger Straße 116. Der Eigentümer des Hofes heißt Tappe-Tiemann. In der Sage wurde der Inhaber Thiem genannt, die Namensähnlichkeit war auffällig genug: Das war wahrscheinlich der Hof, bei welchem die sagenhafte Wittenwiwerkuhle liegen musste.

Telefonisch wurde ein Besuch bei Herrn Tappe-Tiemann vereinbart. Das Treffen musste allerdings mehrmals verschoben werden: Soweit sich der Herausgeber erinnert, musste damals Heu eingefahren werden, denn nach einer langen Regenperiode schien endlich die Sonne. An einem Nachmittag kam das Treffen dann aber doch zustande:

Mit Tonband, Photoapparat und - als Gastgeschenk - einer Flasche Mariacron besuchte der Herausgeber »vor Ort« den inzwischen verstorbenen ca. 80-jährigen Herrn, der dort seit knapp 60 Jahren auf seinem Bauernhof lebte. Auf einem der Felder gegenüber dem Hof lag die in vielen westfälischen Sagensammlungen erwähnte Wittenwiwerkuhle, deren Ausläufer noch heute hinter dem Haus Tippelsberger Straße 103 sichtbar sind. Die eigentliche Wittenwiwerkuhle lag, ungefähr 50 Meter entfernt, unter der später verlegten Tippelsberger Straße.

Herrn Tappe-Tiemanns Ausführungen nach entsprang der Wittenwiwerkuhle früher eine »Quelle, an der noch vor 30 Jahren Frauen auf dem Waschbrett Wäsche säuberten«. Die Quelle hat in einer langgestreckten »Kuhle« gelegen und ihr Wasser ist in seinem weiteren Verlauf in den Osterbach geflossen. Noch 1983 umsäumte Buschwerk die Kuhle. Im selben Jahr tauschte der Landwirt Tappe-Tiemann die Felder auf dem Tippelsberg gegen das städtische Grundstück, auf dem die Wittenwiwerkuhle lag. Die Kuhle wurde auf Anweisung der Stadt Bochum zugeschüttet, um eine landwirtschaftliche Nutzung zu ermöglichen. Je nach Wetterlage ist das Quellgebiet auch heute noch sehr feucht. Der Tippelsberg wird von der Stadt als Bauschuttdeponie genutzt. Große Teile des beim U-Bahnbau anfallenden Aushubs wurden dort abgekippt. Wer die A 43 befährt, sieht den lehmbraunen Berg an der Tippelsberger Straße schon von weitem.

Der alte, schon 1519 erwähnte Hof Tiemann lag bis 1825 auf und hinter dem jetzigen Schulgelände Wilbergstr. 3.

»Die Kapelle in Eickel« dürfte die alte St. Johanneskirche aus dem 14. Jahrhundert gewesen sein. Sie war eine Tochterkirche der Bochumer Propsteikirche St. Peter und Paul. Wegen Bergschäden vor 1890 abgerissen, lag sie im Bereich der ehemaligen Brauerei Hülsmann, Eickeler Markt 1, in Herne.

Der Name Tiemann leitet seine Silbe »Tie«, wie seine Urform »Op dem Thy« erkennen lässt, von dem »Thing« ab. Der »Thing« war in germanisch-heidnischer Zeit ein Platz, der religiösen, gerichtlichen und politischen Versammlungszwecken diente. Da der Hof Tiemann ursprünglich im Dorfzentrum von Riemke lag, dürfte dieser Thing-Platz an der Stelle des Hofes gelegen haben. Der Ortsplan von 1823 zeigt, dass das Gebiet des Hofes fast ringförmig von einer Dorfstraße umsäumt wurde, was den Platzcharakter hervorhebt. Vermutlich war der Platz in heidnischer Zeit frei von Bebauung und wurde erst nach der Christianisierung, als die religiöse Bedeutung des Thing-Platzes verschwand, mit einem Hof bebaut (Hinweis von Uwe Cassel, Herne).

Eine weitere Sage

Eine weitere Sage berichtet: So fischreich der Bach am Tippelsberg auch war, kein Mensch wollte dort Fische fangen. Die Leute befürchteten, ebenfalls auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden und vielleicht niemals mehr das Tageslicht zu sehen. Sie hatten Angst vor den Geistern des Tippelsberges, die sich zuweilen an der Wittenwiwerkuhle sehen ließen und des Nachts in weißen Schleiern sonderbare Reigen tanzten.

Gemeint ist wohl der Osterbach (siehe vorhergehende Seite). Die Straße Am Osterbach liegt an diesem heute verrohrten Gewässer. Nach der Flucht der Stimberg-Bäuerin trieben die Witten-Wiwer auch weiterhin ihren Spuk:

Ein Knecht von Thiems Hof hatte einmal an der Wittenwiwerkuhle gepflügt und da es gerade um die Frühstückszeit war, rief er: »Witten-Wiwer heraus, ich bin hungrig!« Und sogleich stand ein Tisch, mit den herrlichsten Speisen gedeckt, vor ihm. Er dachte nicht lange nach, sondern langte tüchtig zu und ließ es sich schmecken. Solche ausgesuchten Delikatessen gab es sonst nur für reiche Leute auf prächtigen Anwesen. Wahrscheinlich wusste der Knecht von der alten Sage, die ein greiser Knecht aus Hillen (richtiger wohl Gelsenkirchen-Hüllen) erzählte: Danach soll in der Wittenwiwerkuhle ein Schloss untergegangen sein. Kamen die feinen Gerichte vielleicht von dort?

Ein Pferdejunge, der mit dem Knecht zusammen die morgendliche Feldarbeit verrichtete, rief – dem Beispiel des Älteren folgend – ebenfalls: »Witten-Wiwer heraus, ich bin hungrig!« Und schon stand auch vor ihm ein herrlich gedeckter Tisch. Aber aus lauter Furcht vor diesem unheimlichen Zauber mochte er nun doch nichts essen, ja sein Entsetzen über dieses Geschehen war sogar so groß, dass er nach einigen Wochen starb.

Anmerkungen hierzu

Der Name der von den Witten-Wiwern entführten Bäuerin - Stimberg (= Stemberg) - lässt sich auch heute noch in der Nähe des Tippelsberges in Straßennamen wiederfinden. Stembergstraße und Stembergsbusch sind Bezeichnungen für Wege, an denen zum Hofe gehörende Grundstücke lagen.

Der 1486 zuerst erwähnte, nicht mehr vorhandene Stemberghof - einst der größte Hof Riemkes - soll ungefähr 1300 Meter nordwestlich vom Tippelsberg, auf dem jetzigen Friedhofsgelände hinter der Verkehrsstraße 49 gelegen haben. Nixenstraße, Feenstraße und Elfenstraße sind bezeichnende Wegebenennungen in der Gegend der Wittenwiwerkuhle, die an diesen sagen-haften Ort erinnern.

Da wir nun schon soviel von Witten-Wiwern gehört haben, kommt sicher die berechtigte Frage auf: Was eigentlich sind Witten-Wiwer? Einige Sagenforscher übersetzen Witten-Wiwer mit »Weiße« oder »Weise« Frauen und meinen, diese seien in Beziehung zu setzen zu den sagenumrankten germanischen Schicksalsschwestern, den sogenannten Nornen. Es sind Göttinnen der germanischen Mythologie, die das Geschick der Menschen voraussehen und sogar beeinflussen können. Ferner wird behauptet, Witten-Wiwer seien unterirdische Geister, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechende Verhaltensweisen von Frauen bestrafen, im obigen Fall den versäumten Kirchgang nach der Niederkunft. Andere Fachleute meinen dagegen, Witten-Wiwer-Sagen verdanken ihren Ursprung vorzeitlichen Begräbnisstätten.

Zum Tippelsberg siehe auch: Kult- und Grabstätten in Bochum.

Doch was verbinden die Anlieger der ehemaligen Wittenwiwerkuhle heute mit diesen merkwürdigen Gespenstersagen?

Herr N.N.: »Der Räuberhauptmann Tippulus hatte wohl in der Wittenwiwerkuhle sein Quartier. Dort soll auch ein Schatz vergraben sein. Vielleicht ist der Räuberhauptmann Tippulus der Riese vom Tippelsberg.«

Dieses Sagenfragment macht deutlich, dass Volksüberlieferungen selbst bei Anliegern häufig nicht mehr wirklich bekannt sind. Solche Kurzwiedergaben, Hinzufügungen (»Räuberhauptmann«) und Vermischungen der ursprünglichen Sagen sind dafür typisch. Sie zeigen auch deutlich, dass alte Überlieferungen oft nicht mehr ernst genommen werden, denn Erzählgut, das den Menschen wichtig erscheint, verändern sie nicht eigenmächtig.

Der inzwischen verstorbene Herr Davidheimann, Tippelsberger Str. 99a, ca. 85 Jahre alt, erzählte dem Herausgeber: »Vor langer Zeit wurden zwölf weiße Weiber in den Tippelsberg verbannt, anschließend wurden sie niemals mehr gesehen.« Aber blond müssen sie wohl gewesen sein, denn Herr Davidheimann hatte eine Verwandte mit blonden Haaren, und diese Frau hieß früher nur »Die Witte«.

Wittenwiwerkuhle (WGS 84: 51.507483° 7.22125°)

Multimedia

Gelesen von Gisela Schnelle-Parker, Aufnahme und Bearbeitung von Robin Parker.



Literaturnachweis

  • Kuhn, 123-127, 131-133;
  • Firmenich, 370


Hier finden Sie: Wittenwiwerkuhle (51.507483° Breite, 7.22125° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Bochumer Sagenbuch.
Verlag Pomp, 2004
ISBN 978-3893550678.




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