Warum die Hasen so lange Ohren haben

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Als der Herr die Tiere geschaffen hatte, gab er jedem einen Namen. Nachdem er nun alle Tiere benannt hatte, wollte er sich vergewissern, ob sie ihren Namen auch behalten hätten; schließlich sollte keines von ihnen ohne Namen herumlaufen. Er begann also zu fragen:

»Wie heißt du?« 

»Pferd!« 

»Und du?« 

»Kuh!« 

»Und du?« 

»Iltis!« 

So befragte er sie der Reihe nach. Bisweilen hatte ein Tier seinen Namen schon wieder vergessen, dann half der Herr ihm freundlich auf die Sprünge. Bei der Schnecke musste er sogar zweimal nachhelfen. Andere kamen aus dem Stottern nicht heraus. Die Taube beugte den Kopf immer nach vom und sagte: »Tru-Tru!«, aber »Taube« bekam sie nicht hintereinander. Das Eichkätzchen (= Eichhörnchen) hatte seinen Namen schon auf der Zunge, da sprang die Katze hervor und rief: Nein, Katze bin ich!« Andere warfen alles völlig durcheinander. Die Elster wollte Bachstelze heißen und der Pfauhahn »Sonnenschirmchen«. Es war manchmal ganz schön verzwickt, aber zuletzt kannten alle Tiere ihren Namen. Nun sagte der Herr, sie sollen schön auf ihren Namen achtgeben und ihn in Ehren halten, dann ließ er sie laufen.

Und was machte der Hase? Während der Herr die Namen vergab, saß er in der letzten Reihe und knabberte mal rechts ein Blättchen und mal links ein Krautspitzchen ab. Schließlich war er das Herumsitzen leid und hoppelte los. Wie es der Zufall wollte, geriet er auf eine Wiese, voll von Klee - jawohl, Klee! Nun war Hasensonntag. Und als er sich rundum vollgefressen hatte, legte sich der Hase in eine weiche Mulde, ließ Namen Namen sein und döste vor sich hin. Bald darauf wurde es dunkel und er schlief ein. Weil er sich aber so mit saftigem Klee vollgestopft hatte, dass er schon mehr Klee als Hase war, träumte er auch von Klee und immer wieder nur von Klee. Manchmal begann der Hase sogar im Traum zu mummeln, denn soweit er nur schauen konnte, lagen die schönsten Kleewiesen vor ihm ausgebreitet. Aber auch bei den Hasen haben schöne Träume einmal ein Ende. Am nächsten Morgen kam er sich ein wenig steif vor, und um sich warmzulaufen, brachte er ein ganzes Stück Wegs hinter sich. Nur noch den Berg dort hinaufflitzen, dann wollte er sich ausruhen. Als er oben war und sich ein Stündchen die Sonne auf den Balg hatte scheinen lassen, wurde er wieder hungrig und dachte an den Klee von gestern. Gras ist zwar auch ganz lecker, aber es ist kein Klee, und überhaupt: »Es geht nichts über Klee!« Und los lief er, das Kleefeld von gestern müsste doch zu finden sein!

Da kam der Herr des Weges. Als er den Hasen sah, blieb er stehen. »Warum rennt das Tier denn nur so?«, dachte er. Als dann der Hase in seine Nähe gekommen war, fragte er: »Na, Mümmelmännken, wo willst du denn so eilig hin?« 

Oh, diese Begegnung war dem Hasen gar nicht geheuer und er lief ganz schnell weg. »Pass auf«, dachte er, »der fragt dich noch nach deinem Namen. « Ja, was für einen Namen hatte er denn bekommen? Den hatte er ja völlig vergessen! Der kalte Schauder lief ihm vom Näschen bis zum Schwanz, er wurde vorne und hinten kreideweiß. Und von diesem ersten Schrecken haben alle Hasen einen weißen Flecken auf der Brust und einen unterm Schwanz. Bis heute noch!

Und nun kam es: »Sag mal, Mümmelmännken, wie war das mit deinem Namen? Bist du mir gestern nicht allzu früh weggehoppelt? Welchen Namen habe ich dir denn gegeben?«, wollte der Herr wissen. »Mümmelmännken!«, sagte der Hase, gerade noch hatte er gehört, dass der Herr ihn so anredete, wenn dieser Name ihm auch ein bißchen zu lang vorkam. »Nein!«, entgegnete der Herr und fing an zu lachen. »Das kommt davon, wenn man zu eilig wegläuft! Aber ich will dir deinen Namen noch einmal sagen: Hase!« Dabei bückte er sich und zog dem verdatterten Tier die Ohren lang.

»So - nun nicht noch einmal vergessen!« Damit ließ er den Hasen sitzen und ging seiner Wege. Von dieser Zeit an haben alle Hasen lange Ohren.

Literaturnachweis

  • BS, Nr. 38 (Kleff, Bd. 4, 1938, 104f. (Übersetzung aus der Bochumer Mundart von Grete Frese/ Witten-Herbede)




Weitere Sagen aus Bochum.


Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Emschersagen. Von der Mündung bis zur Quelle.
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2006
ISBN 3-922750-66-4.




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