Die Springwurzel

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

Wechseln zu: Navigation, Suche

Nach dem Siebenjährigen Krieg trieben sich zwischen Hellweg und Ardey besonders viele Diebe herum. Darunter waren Spitzbuben von ungewöhnlicher Art. Sie stahlen alles, sogar das, was gewöhnlich. niet- und nagelfest war. Vor ihnen hielt kein Schloß und kein Riegel stand. Und nur selten wurde einer von ihnen erwischt. Hatten die Gendarmen aber glücklich mal einen geschnappt und ins Gefängnis gesteckt, so war er am nächsten Morgen schon wieder entflohen und längst über alle Berge. Damals erzählten sich die Leute, diese Sorte Spitzbuben besäßen Springwurzeln, mit denen sie alle Türen, Schränke und Truhen im Nu öffnen könnten. Eine Springwurzel bekommt man, wenn man das Nest eines Grünspechts mit einem Holzkeil verschließt und sich dann auf die Lauer legt. Kommt der Specht und findet sein Nest verschlossen, fliegt er fort und sucht eine Springwurzel. Grünspechte wissen nämlich, wo man sie finden kann, Menschen haben dagegen bisher immer vergeblich nach ihnen gesucht.

Bevor aber der Vogel zurückkehrt, muß man einen roten Lappen unter den Baum gelegt haben. Kommt der Specht nun mit der Wurzel im Schnabel angeflogen und hält sie vor den Holzkeil, so springt der Keil sofort heraus, wie von einem starken Schlag getrieben. Weil der Vogel aber die Wurzel niemandem seiner Artgenossen gönnt, läßt er sie auf den roten Lappen fallen, weil er glaubt, der wäre ein Feuer, in dem die Wurzel verbrennen würde. Nur auf diese Weise erhält man eine Springwurzel. Weil die Spitzbuben aber fürchten, sie könnten ihr wichtigstes Werkzeug verlieren, stecken sie die Springwurzel an den linken Daumen, wie man ein Reis auf einen jungen Obstbaum setzt und anwachsen läßt. Sie schneiden einen Ritz in ihren Daumen und pfropfen die Wurzel darauf.

Auch ein Schäfer vom Haus Dellwig soll vor Zeiten eine Springwurzel besessen haben. Doch benutzte er sie niemals zu unehrlichen Zwecken. Als er einmal nahe bei Westrich seine Herde hütete und dabei sorglos an einem Strumpf strickte, hörte er plötzlich hinter sich eine helle Stimme sprechen. »He, Schäfersmann!« Er wandte sich um, und vor ihm stand eine Weiße Jungfer in einem prächtig langen Kleid. »Nimm deine Springwurzel und folge mir nach«, sprach sie freundlich.

Der Schäfer mußte die Wurzel aber erst aus seinem Karren holen, wo er sie in einer Flasche aufbewahrte. Er ließ nun seinen Hütehund allein bei der Herde und folgte der geheimnisvollen Jungfer. Sie führte ihn zum Waldrand, bis dahin, wo an einem Abhang ein dichtes Ginstergebüsch stand. Dahinter verbarg sich ein schmaler Felsspalt, den der Schäfer bisher noch nie gesehen hatte. »Halte deine Springwurzel an den Spalt«, sagte die Jungfer. Da wurde der Spalt langsam breiter, so daß sie beide nach einander hindurchgehen konnten. Und sie kamen in eine Höhle, die tief in den Berg hinein führte. Der Schäfer wunderte sich, daß es in der Höhle nicht völlig dunkel war. Doch dann merkte er, daß von der Weißen Jungfer eine seltsame Helligkeit ausging. Nach etlichen Schritten war der Gang durch eine Tür verschlossen. »Halte deine Wurzel an die Tür«, sagte die Jungfer. Sogleich öffnete sich die Tür knarrend. Die beiden gingen immer tiefer in den Berg hinein, bis sie einen runden, hochgewölbten Raum erreichten. Da saßen zwei junge Frauen links und rechts neben einem steinernen Tisch an Spinnrädern und spannen emsig. Ringsum standen Körbe, die einen mit roher Schafswolle gefüllt, andere aber mit leuchtendem Gold und glitzernden Edelsteinen.

Verwirrt und mit offenem Mund stand der Schäfer da und starrte auf die Schätze. Die Weiße Jungfer zeigte lächelnd auf die Körbe und sagte: »Nimm dir, soviel du willst. « Ohne zu Zögern griff er hinein und füllte seine Taschen mit Gold und Edelsteinen, soviel sie nur halten konnten. Wie er nun reich beladen wieder hinaus wollte, sagte die Jungfer: »Vergiß aber das Beste nicht!« Er glaubte, daß sie noch weitere Schätze meinte, und sah sich im Raum um, Doch er fand nichts, was er nicht schon hatte. Die Weiße Jungfer aber meinte die Springwurzel.

Als er nun durch den Gang zurück ging, ohne die Springwurzel, die er auf den steinernen Tisch gelegt hatte, da schlug die Tür krachend hinter ihm zu. Sie schlug hart an seine Ferse, so daß sie fast abgeschlagen worden wäre. Durch den Felsspalt konnte er sich nur mit großer Mühe zwängen. Immerhin hat er seinen Reichtum glücklich nach Hause bringen können. Aber den Eingang in den Berg hat er nie wiedergefunden.

Anmerkungen

Der 3. Schlesische Krieg (1756-1763), in dem Preußen unter König Friedrich II. dem Großen mit viel Glück siegreich gegen Österreich um Schlesien (1945 an Polen gefallen) fochte, wurde auch »Siebenjähriger Krieg» genannt. Zum Hellweg siehe die geschichtliche Einleitung zu Bochum und Sage 79. Ardey ist ein Höhenzug aus Grauwacker und Sandstein nördlich der Ruhr, der sich von Witten (Ennepe-Ruhr-Kreis) bis Fröndenberg (Kreis Unna) erstreckt. Westrich ist ein Stadtteil von Dortmund.

Haus Dellwig (WGS 84: 51.50905° 7.3495°)

Literaturnachweis

  • Gronemann, 222f.


Hier finden Sie: Haus Dellwig (51.50905° Breite, 7.3495° Länge)

Diesen Ort mit weiteren Geodiensten anzeigen. Weitere Sagen aus Dortmund.


Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Emschersagen. Von der Mündung bis zur Quelle.
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2006
ISBN 3-922750-66-4.




Der Text ist urheberrechtlich geschützt. Nähere Informationen: siehe Impressum.

Ruhr2010Logo
Redaktion