Die Hexe an der Knippe

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Auf der Knippe nahe der grünen Delle wohnte eine dünne Frau, die Tag und Nacht keine Ruhe im Leibe hatte. Der Mann arbeitete auf der Zeche in der Dickebank. Das konnte man ihm wohl ansehen: er hatte was, das fraß ihm am Herzen. Seine Frau hatte nämlich das »zweite Gesicht«. Mehrmals in der Woche kroch sie heimlich aus dem Bett, wenn der Mann noch schlief, zog sich ihre Kohlschuhe (wohl Holzschuhe) an und lief wie im Traum den Berg runter zur Ruhr hin. In den Morgenstunden kam sie nach Haus, von den Füßen bis zur Kleid herauf klatschnass und um die Nase herum so weiß wie der Kalk an der Wand. »In den nächsten Tagen«, sagte sie, »stirbt jemand. Ich habe ihm alle Pforten in den Ruhrwiesen aufgemacht, sie können sich alle schon drauf einrichten.« Und so kam es auch: rund herum starb niemand, den die Frau nicht im Traum gesehen hatte. Daher hatte sie von Nah und Fern eine große Anhängerschaft. Bei Kaffee und Gebäck wurde dann die ganze Angelegenheit gemeinsam besprochen, sie saßen alle um sie herum wie die Klosterschwestern.

Nun war das ein sehr heißer Sommer; die Kühe in den Ruhrwiesen standen ganz trocken, fraßen aber wie die Drescher. Wenn man sie melken wollte, kamen nur ein paar Tropfen, das war die Mühe nicht wert und sie war dünner als Kalkmilch. Die Bauern standen wie die Ochsen am Berge, taten für die Kühe was sie konnten, es half aber alles nichts. Die Tiere standen da so ganz unschuldig, drehten die Kuhgesichter, als wenn sie wohl was wüssten, aber wegen der Tierstummheit nichts sagen könnten. Was war zu guter Letzt zu machen? Zu der Knippsche hin, die hatte schon manchen aus der Verlegenheit geholfen.

Die Knippsche ließ sich haarklein erzählen, wie es bei jeder Kuh stand. Sie besann sich auch nicht lange, drehte die Augen zur Wand hin, wies auf das Handtuch und sagte: »Die Sache ist schlimm; wir haben hier in der Nähe jemanden, das ist eine Hexe – ich habe es schon lange in meinen Knochen gespürt. Diese Hexe ist eine von den ausgekochten, sie hat es schon weit in der schwarzen Kunst gebracht. Was sie kann, das kommt selten vor; sie melkt die Kühe durch den Handtuchzipfel. Dabei sagt sie einen Spruch, den der Gewaltige (= Teufel, D.S.) sie gelehrt hat, danach können sich die Tiere nicht mehr halten und müssen die Milch laufen lassen, so wie es der Hexe gefällt. Das sah nun auch jeder ohne weiter‘s ein, und sie drangen auf die Knippsche ein, dass sie ihnen sagen soll, was man dagegen machen soll. » Da ist was gegen zu machen«, sagte die Knippsche, »es muss aber einer in die Hand nehmen, der dafür geeignet ist. Ich meine, die Husmannsche könnte das wohl am besten. Passen sie auf, Husmannsche, sagte das magere Weib, » gehen Sie in den nächsten Tagen selbst in die Ruhrwiesen und melken sie das Tier nochmals. Und wenn auch nur ein Tropfen kommt, so ist es genug. Den Topf mit der Milch setzten Sie dann auf den Ofen, dann müssen sie einheizen bis die Platte rot wird. Aus dem Dampf steigt etwas in die Höhe, da hält sich die Hexe drin auf. Dann nehmen Sie eine Gabel oder Schere und stechen von oben nach unten immer feste in den Dampf. Das hält die Hexe nicht aus, die Stiche gehen ihr alle in den Rücken. Aber Türen und Fenster gut abdichten, sonst zieht sie mit dem Dampf ab. Sie werden sehen: Die Hexe kommt so schnell wie dreißig angestürmt, und wir sind aus ihrer Gewalt raus.« 

Es war an einem Freitagmorgen – die Männer waren schon lange aufs Feld ge­gangen – da stand die Husmannsche in ihrer Küche und machte sich fertig. Sie zog den Riegel feste hinter die Tür, zog die Fensterläden feste an und steckte den Haken dahinter. Es war ganz dunkel in der Stube. Dann setzte sie den Milchtopf auf den Ofen. In kurzer Zeit dampfte die Milch. Dann nahm die Hausfrau die größte Gabel, die in der Schublade lag. Nun ging es hin und her; durch die Stube laufend, immer den Schwaden nachjagend, stach sie von unten nach oben und von oben nach unten in den Schwaden hinein. Währenddessen meinte sie zu bemerken, dass draußen jemand laufen und stöhnen würde. Dadurch wurde sie noch boshafter und stach in ihrem Eifer ein, wie sie nur konnte. Das Laufen kam näher und näher; dann fiel etwas Schweres gegen die Tür, dass es nur so krachte. Danach rappelte es an der Tür, riss am Fenster, sprang die Hauswand herauf und schlug wie toll mit zwei Menschenfäusten gegen die Tür und rief, dass die Stimme sich überschlug: »Lasst mich los, ich kann es nicht mehr aushalten …« Dann gab die Husmannsche nach, und es war stille. Von dieser Zeit an hörte es auf, die Kühe durch ein Handtuch zu melken. Die Tiere taten nun wieder ihre Schuldigkeit, so gut sie konnten.

Anmerkungen

Menschen mit dem »Zweiten Gesicht«, auch Spökenkieker (Geister­seher) genannt, hatten früher die in Westfalen stark verbreitete Gabe der außer­sinnlichen Wahrnehmung. Der Erlebende ist scheinbar im Besitz des normalen Wachbewusstseins, wenn er spontan die meist optische Halluzination erfährt, die sinnbildlich auf ein räumlich oder zeitlich entferntes Ereignis verweist. Sie erlebten die Sehergabe nicht aktiv, sondern waren passiv im Banne des Zweiten Gesichts, d. h. sie hatten nicht die Wahl ein zukünftiges Geschehen zu sehen oder nicht zu sehen, daher empfanden sie ihre unfreiwillige Gabe häufig als Fluch. Nicht selten zerbrachen die Geisterseher an ihrer unfreiwilligen Fähigkeit, die sie zum Unheilverkünder und damit zum gemiedenen Sonderling und Einzelgänger stempelte. Auf der Knippe liegt an der Grenze von Bochum-Dahlhausen und Hattingen-Baak auf Hattinger Gebiet. Eine Familie Husmann wohnt heute noch an dieser Straße.

Wenn Sie auf Bochumer Gebiet in die Winzerstr. 4-32 einbiegen und nach 60 Metern dem am Spielplatz vorbeiführenden Fußgängerweg folgen, liegt die Grüne Delle (ein Siepen, also ein kleines Tal) rechts 200 Meter entfernt. Diese mittelalter­lich anmutende Sage ist wohl nicht vor 1858 entstanden, denn im selben Jahr wurde die Zeche Vereinigte Dahlhauser Tiefbau (»Zeche in der Dickebank«) an der Ruhr in Bochum-Dahlhausen gegründet.

Der Betrieb wurde 1966 stillgelegt und sechs Jahre später abgerissen. Wir erreichen das ehemalige Zechengelände, wenn wir von Bochum-Dahlhausen-Zentrum kommend der Lewackerstraße folgen, bis sie nach links den Berg hoch abknickt. Ab dem Knick folgen wir dem ausgewiesenen Fußweg. Dort sind links die massigen Fundamente der Zeche zu betrachten.

Grüne Delle (WGS 84: 51.416167° 7.1549°)

Literaturnachweis

  • Übertragung aus Hattinger Mundart von Wilhelm Dickten/Bochum nach: Westfälischer Heimatbund, dort in Mundart überliefert von Karl Vaupel: Op dä Knippe, noge bi de greine Delle, wuonnen es so’n dünn spökig Wiev, wat Dag un Nacht känne Rauh im Liewe harre. Dä Mann arbeen op däm Tiebau inne Dickebank, un dat konn mä äm woll anseihn: hä harre wat, dat frat äm am Hiärten. Sine Frau harre dat twedde Gesicht. Miährmols inne Wiäcke krop sä hemlich ut däm Bierre, wann dä Mann noch schleip, trock sik sine Kuollschauh an un leip as im Droum dän Biärg runner no dä Ruhr hen. Inne Muorgenstunne kam sä no Hus, van dä Feite bis an dä Kleer herop klätschenaat un üm dä Nase so witt as Kalk anne Wand. „Dösse Dage“, sag sä dann woll, „stierwet üms; ek heff äm all dä Puoten in dä Ruhrweihn oppen­gemakt, sä könnt sik all mä drop inriehen.“ Un so kam’t ouk: rüm un tüm sturw nüms, wä dä Frau nich all im Droum geseihn harre. Dovan harre sä nu van nuoge un wiet en grouten Anhang; bi Koffi un Beschüt wuor dann dä ganze Angeliergenheit bineen gerigget, sä saten alle üm ähr herüm as dä Klostersüsters. Nu war dat en bannig heeten Sommer; dä Keih in dä Ruhrweihn stuonnen ganz dröge, fraten öwer as dä Diärschers. Wann mä sä melken woll, kamen so`n paar Dröppkes, dä Meih nich wät un so dünne as Kalkmiälk. Dä Buern stuonnen as dä Ossen am Biärge, dohn an dä Diers, wat sä konnen, et huolp öwer alle nicks. Dä Diers stuonnen do ganz unschüllig, dreihn dat Kauh­gesichte, as wann sä woll wat wüssen, et öwer vanwegen dä Diersstummheit nich seggen können. Wat war teguodderleßt te maken? No dä Knippsche hen, dä harre all mannigeenen ut dä Verliergenheit gehuolpen. Dä Knippsche leit sik hoorklein vertellen, bu dat met jede Kauh stuonnt. Sä besunnt sik ok nich lange, dreihn dä Uogen no dä Wand hen un wiersen op dat Handauk un sag: „Dä Sake es schlimm; wie häwwet hier in dä Nöchte üms, dat es ’ne Hexe – ek häwwet all lange inne Knuocken gespuott. Dösse Hexe es ene van dä ganz utgekuokten, sä hiet et all wiet in dä Schwatte Kunst gebracht. Wat dä kann, dat kömmt selten vür: sä melkt dä Keih dörch den Handauktimpen. Dobie siett sä en Spruch, wä dä Gewöltige ihr gelährt hiet, dann könnt sik dä Diers nich mä huollen un meit dä Miälk loupen luoten, so wiet as dat dä Hexe gefällt. Dat suog nu ouk jederen ohne widders in, un sä drungen op dä Knippsche in, dät sä ähr seggen suoll, wat doteggen te maken wüör. „Do es wat teggen te maken“, sag dä Knippsche, „et maunt öwer üms inne Hand niämmen, wä do geegnet vö es. Mi dünkt, dä Husmännsche könn dat woll am besten. Paß Git op, Husmännsche“, sag dat spuchtige Wiev, „guoch Git dösse Dage sewwers inne Ruhrweih un melket dat Dier noch es. Un wann mä blouß en Druoppen kömmt, dat es genaug. Dän Pott met dä Miälk settet Git op dän Uommen, dann mei Git inbeiten, dat dä Plate rot wiett. Ut däm Damp stieget wat in dä Höchte, do hölt sik dä Hexe drin uop. Dann niämm Git ’ne Gaffel oder ´ne Schär un stiäcket van buommen dahle ümmer faste in dän Damp. Dat hölt dä Hexe nich ut, dä Stecke guot ihr alle in dän Rüggen. Öwer Düern und Fensters guot dichte maken, süß treckt sä us met däm Schwahm af. Git söllt seihn: dä Hexe kömmt so hatt as diärtig angesturwen, un wi sin ut ähre Gewuolt herut.“ Et war op en Friedagmuorgen – dä Mannslü waren all lange op’t Feld gegohn – do stuonn dä Husmännsche in ähre Köcke un muok sik ferrig. Sä drugg dän Kräppel faste op dä Düer, trock dä Sclaglädens duonne an, kneep dat Höksken drächter, dat dat ganz düster in dä Sturwe wuor, un satt dä Miälk op dä Uommensplate. In Tiet van nicks dempen dä Miälk. Do nahm dä Hus­männsche dä gröttste Gaffel, wä im Schuott lag, un nu guong dat hen un hier, dann van unnen herop, dann van buommen dahl, ümmer dörch dä Sturwe gestiärken un däm Schwahmen noh. Sä war all am Meiwern, do war ähr dat, as wann te buten en Luopen un Stöhnen wör. Met däm kreeg sä noch duller dä Bosheit un stak in ähren Iwer drop in, wat sä mä kuonn. Dat Luopen kam nöger un nöger; dann foll wat Schwores teggen dä Düer dahle, dat et so kraa­ken. Dann rappeln’t an dä Düer, reet an dä Fensters, sprung an dä Huswand herop un buosen as dull met twee Menschenfüste teggen dä Düer un reip, dat dä Stemme öwerschleig: „Lout Git mi los, ek kann’t nich mäh uthuollen …“ Do gaff dä Husmännsche dat dran, un dan wuor dat stille. Van dä Tiet an huor dat op, dä Keih dörch dat Handauk te melken. Dä Diers dohn nu wier ähre Schülligkeit, so guot as sä mä kuonnen.


Hier finden Sie: Grüne Delle (51.416167° Breite, 7.1549° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Hattinger Sagenbuch.
Essen: Verlag Pomp, 2007
ISBN 978-3893552542.



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