Die Esel von Stiepel (Ein Märchen)

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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drei weiße Esel

»... rechts das Dörfchen Stypel mit Gärten, Baumgruppen und idyllischem Kirchturm malerisch auf dem Hang des Berges gelagert ...« (Schücking-Freiligrath)

»Jedes Dorf umgibt ein Hain schön belaubter Bäume, und nichts übertrifft die Üppigkeit der Wiesen, durch welche sich die Ruhr in den seltsamsten Krümmungen schlängelt.« (H. Fürst von Pückler-Muskau, 1826)

Im Lande Westfalen liegt an der Ruhr ein Dorf, das heißt Stiepel. Dort kamen einmal zur gleichen Stunde drei Esel auf die Welt, die anfangs ganz wie ihresgleichen schienen. Doch bald zeigte es sich, wie sehr sie von den anderen verschieden waren. Der erste Esel hatte eine gewaltige Stimme und sein Atem war so stark wie ein Sturmwind; der zweite konnte laufen, so schnell wie keiner und schlug mit seinen Hufen nieder, was ihm im Wege stand; der dritte aber hatte einen Magen, in den ging alles hinein. Und allesamt waren sie ausgelassen und ließen sich nicht bändigen. Da sprachen die Bauern zu ihnen: »Ihr seid zu nichts zu gebrauchen! Begebt euch auf die Wanderschaft und versucht anderswo euer Glück; in Stiepel könnt ihr nicht länger bleiben!« So schlug die Abschiedsstunde. Das Scheiden tat den Eseln bitter weh. Sie stiegen auf einen Hügel, von dem sie Stiepel, die Ruhr und die Burg Blankenstein gar herrlich in der Morgenfrühe liegen sahen. Dort beschlossen sie, noch einmal eine Probe ihrer Kraft zu geben, damit die Stiepeler recht lange an sie zurückdenken würden. Der erste Esel tat sein Maul auf und brüllte, wie es noch niemals gehört worden war. Selbst die Schwerhörigen und Tauben sprangen aus den Betten, um zu sehen, was es denn gäbe. Der zweite Esel schlug, als alle Stiepeler angstvoll aus der Ferne zuschauten, mit seinen Füßen gegen eine alte Eiche; sie knickte um, rollte mit Getöse den Hügel hinab und richtete großes Unheil an. Der dritte Esel stürzte sich über ein langes und breites Feld, auf dem am Abend zuvor das Gras geschnitten worden war. Das vertilgte er nun im Handumdrehen, daß nichts mehr davon zu sehen war, und das Entsetzten war groß. Ehe die Bauern zur Rache ausrücken konnten, waren die Esel auf und davon, voran jener, der so überaus starke und schnelle Beine besaß. Als die Esel an die Ruhr gekommen waren, sahen sie dort ein Schiff auf den Wellen schaukeln. Das war mit Kohlen beladen, und der Schiffer stand am Ufer und schaute ratlos drein. »Was ist dir, Schiffer?«, fragten die Esel. »Ach«, entgegnete dieser, »mir ist mein Knecht davongelaufen. Nun weiß ich nicht, wie ich mein Schiff den Fluß hinabbringe bis dort, wo die Ruhr in den Rhein fließt.« »Wenn dir weiter nichts fehlt«, sagten die Esel, »so kann dir geholfen werden. Wir sind gerade auf dem Wege, in die Welt zu wandern. Da wollen wir dein Schiff schon weiterbringen.« Nun war der Mann seine Sorge los. Er schwamm zum Schiffe hinüber, befestigte dort lange Stricke und schwamm mit den Enden wieder zurück. Die gab er den Eseln in das Maul, und sie hielten fest und zogen das Schiff am Ufer weiter. Als die Esel schon eine gehörige Strecke hinter sich gebracht hatten, schien ihnen das Schiff schwerer zu werden. Sie blickten hin, wie es langsam ruhrabwärts fuhr, und entdeckten eine Nixe, die hatte sich angehängt und lachte zu den Eseln herüber. »Willst du das Schiff wohl fahren lassen«, riefen die Esel erzürnt. »Laßt mir doch den kleinen Spaß«, bat die Nixe, »ich will dafür zum Abschied mit gutem Rat nicht sparen.« Da ließen die Esel sie gewähren und es war eine ganz vergnügte Reise. Endlich kamen sie an eine Stadt, da floß die Ruhr in den mächtigen Rhein. Nun plätscherte die Nixe ans Ufer und sprach zu den Eseln: »Wenn ihr das Schiff hier im Hafen gelassen habt, schreitet rüstig weiter und wandert nach Holland über den Rhein. Das wird euch nicht gereuen.« Da nahmen die Esel Abschied von der Nixe und zogen den Rhein entlang und weiter, bis sie nach Holland kamen. In Holland war große Not. Seit vielen Wochen hatte es keinen Tropfen geregnet. Ununterbrochen lachte die Sonne, und das ganze Land war ausgetrocknet. Mit traurigen Gesichtern gingen die Leute umher und starrten in den Himmel, ob nicht bald ein Wölkchen käme. Vor der Hauptstadt von Holland gewahrten die Esel einen Gärtner, der ihnen entgegenkam und zornig vor sich hinmurmelte. »Was ist mit dir«, fragten sie ihn, »und was ist mit Holland geschehen?« »Holland ist so heiß wie ein Bratofen geworden«, sagte der Gärtner, »und ich bin der Hüter der königlichen Tulpenfelder. Wenn das so mit der Hitze weitergeht, falle ich beim König in Ungnade. Denn die Tulpen, die seine Lieblingsblumen sind, lassen schon samt und sonders die Köpfe hängen.« »Warum trägst du denn kein Wasser hin und begießt deine Tulpenfelder?«, fragten die Esel. »Ach«, seufzte der Gärtner, »alle Kanäle sind ausgetrocknet, und ehe einer das Wasser vom Rheine bis hier herunterbringt, ist es längst in den Bottichen verdunstet.« Da sprach der eine Esel zu den anderen beiden: »Wir wollen uns hier trennen, liebe Brüder, und uns erst wieder treffen, wenn es in Holland geregnet hat. Lebt wohl, ich gehe mit dem Gärtner! Ich will sehen, was sich machen läßt.« Als er das gesprochen hatte, nahm er Abschied von seinen beiden Gefährten, die ihres Weges weiterzogen, und ging mit dem Gärtner, bis sie an die Tulpenfelder gelangten. Da rief der Esel aus: »Was ist das für eine Pracht in rot und gelb und weiß und blau, so weit das Auge reicht! Es wäre ein Jammer, wenn diese Blumen verdorren müßten.« »Nun sieh zu«, erwiderte der Gärtner, »ob du hier helfen kannst.« »Deswegen sorge dich nicht«, sprach der Esel, »ich habe so schnelle Beine, daß keiner mich übertreffen kann. Hänge mir rechts und links über den Rücken einen Bottich, der zu verschließen ist. So will ich zwischen dem Rheine und deinen Tulpenfeldern hin und her laufen und so viel Wasser besorgen, wie du zum Gießen für deine Blumen nötig hast.« »Wenn du das fertigbringst«, sagte der Gärtner, »dann wirst du hoch in des Königs Gunst stehen und ein gemachter Mann sein.« Da ließ sich der Esel die Bottiche über den Rücken schnallen und lief zwischen dem Rheine und des Königs Tulpenfeldern hin und her, und der Gärtner konnte alle Blumen begießen. Da wurden sie wieder frisch und richteten sich auf. Der Gärtner schnitt einen großen Strauß und brachte ihn vor den König. Der saß, sein Haupt in die Hand gestützt, auf seinem Thron und dachte darüber nach, wie lange schon diese Hitze in Holland herrschte. Da sah er die Tulpen und rief aus: »Was sehe ich! Das sind ja frische Tulpen! Nun sage mir nur, Gärtner, woher hast du diese in einer Zeit, wo jeder Grashalm im Sonnenbrand verdorrt?« »Es sind drei Esel aus Stiepel gekommen«, erzählte der Gärtner, »und wandern durch Holland. Einer davon läuft wie der Wind. Der hat sich zu mir gesellt und trägt mir Wasser vom Rheine herbei, so daß ich die Tulpen begießen kann.« Da sprach der König: »Laß den Esel nur weiter für Wasser sorgen; doch ist die Zeit der Hitze vorbei und alles wieder wie ehedem, dann führe ihn zu mir, damit ich ihn belohnen kann.« Das versprach der Gärtner dem König und kehrte zufrieden in die Tulpenfelder zurück. Die beiden anderen Esel waren weiter gewandert und stießen nach geraumer Zeit auf einen Müller, der die Zipfelmütze über sein Gesicht gezogen hatte und vor seiner Mühle schlief. Sie weckten ihn und fragten, warum er denn schlafe, anstatt auf seine Mühlen zu achten. »O je«, erzählte der Müller, »alle Mühlen, die ihr hier erblicken könnt, gehören dem König von Holland. Das ist ein lustiges Geklapper, wenn sie alle mahlen und sich drehen.« »Warum drehen sie sich denn nicht?«, fragten die Esel. Der Müller erwiderte: »Seit Wochen weht in Holland kein Lüftchen, und Wind gibt es keinen mehr. Daher bleiben alle hundert Windmühlen stehen.« Die Esel fragten: »Was sagt der König dazu?« »Der ist betrübt«, berichtete der Müller, »wenn die Windmühlenflügel das Klappern verlernen, dann gibtʻs kein Brot.« Sprach der zweite Esel zu dem dritten: »Gehe du weiter, ich will hier bleiben und sehen, was sich machen läßt.« Und er blieb bei dem Müller. Der sagte: »Wissen möchte ich schon, wie du hier helfen willst.« »Höre«, sprach der Esel, »ich habe eine Stimme und kann brüllen, daß jeder davor zittert, und habe einen Atem, daß der stärkste Mann umfällt; solcher Windmühlen hundert will ich im Spiele anblasen, daß sich die Flügel drehen.« Und er lief umher und blies seinen Atem gewaltig in die Windmühlenflügel. Ehe der Müller sichʻs versah, drehten sich alle hundert Mühlen, und es war ein Geklapper bis weit übers Land. Die Leute kamen herbei und konnten sich nicht genug wundern. Auch der König hörte davon. Er ließ den Müller holen, lobte ihn und fragte, wie es käme, daß die Mühlen gingen, ohne daß ein Lufthauch sich rührte. Der Müller erwiderte: »Daß die Mühlen klappern, ist nicht mein Verdienst. Es sind zwei Esel von Stiepel an meiner Schwelle vorübergezogen. Einer ist bei mir geblieben; der bläst mit seinem Atem so gut wie der stärkste Wind.« Sprach der König: »So etwas habe ich noch nie erlebt! Aber laß ihn blasen, damit die Mühlen mahlen. Doch wenn die Zeit gekommen ist, wo wieder der Wind aus den Wolken weht, führe den Esel herbei, damit ich ihn belohnen kann.« Das versprach der Müller nicht zu vergessen und kehrte auf dem nächsten Wege zu seinen Mühlen zurück. Der dritte Esel gelangte endlich bis an das Meer. Da traf er eine Schar von Mädchen an, die am Strand hin und her liefen und jammerten. »Was jammert ihr so und was ist geschehen?« fragte der Esel verwundert. Die Mädchen entgegneten: »Siehst du jenen Turm weit draußen im Meere?« »Den sehe ich wohl«, sagte der Esel, »welche Bewandtnis hat es damit?« Die Mädchen erzählten: »Jener Turm gehört der Tochter des Königs, und keiner hat einen Schlüssel dazu als sie allein. »Ja«, fragte der Esel weiter, »und was ist mit des Königs Töchterlein?« »Wir haben miteinander am Strande gespielt«, sagten die Mädchen. »Da hat sie auf einmal gerufen: ›Auf dem heißen Lande gefällt mirʻs nicht mehr. Ade, ich ziehe in meinen Turm. Mitten im kühlen Meere will ich wohnen!‹ Und sie ist in ihren Kahn gesprungen und hinausgerudert und sitzt nun im Turm, und keiner kann hinein.« Der Esel fragte: »Was wird der König dazu sagen?« »O«, jammerten die Mädchen, »der wird uns bestrafen, wenn er erfährt, daß seine Tochter sich im Turme verschlossen hält.« Wie sie nun so standen und ratschlagten und jammerten, kam der König mit seinem Gefolge daher, um am Strande Erquickung zu suchen und nach seiner Tochter zu schauen. Da mußten die Mädchen ihm berichten, was vorgefallen war, und der König wurde von heftigem Zorn ergriffen. »Ihr unachtsamen Mädchen«, schalt er, »so wenig habt ihr auf die Königstochter acht?« Da warfen sie sich ihm zu Füßen und weinten und beteuerten, es wäre nicht ihre Schuld. Der König aber stand mit finsterem Gesicht da und befahl schließlich seinen Dienern, in Boote zu steigen, hinauszurudern und die eigensinnige Tochter zurückzuholen. Die Diener fuhren davon. Am Ufer stand der König mit seinem Gefolge, den weinenden Mädchen und dem Esel von Stiepel. Er schaute ihnen nach und sah, wie die Boote auf dem Meere immer kleiner und kleiner wurden. In der Ferne umkreisten sie den Turm, und nach geraumer Zeit kehrten sie zurück. Als sie sich in Rufweite befanden, fragte der König: »Habt ihr mir die Tochter zurückgebracht?« Aber die Insassen der Boote schwiegen, fuhren ans Ufer und stiegen traurig aus. »Redet«, herrschte der König sie zornig an, »was habt ihr am Turme gesehen, warum kommt ihr ohne die Prinzessin zurück?« Die Diener sprachen: »Wir haben gesehen, es ist ein hoher Turm und mit Gewalt kann keiner hinein. Drei Fenster sind darin, und in jedes trat eure Tochter. Im ersten stand sie und salbte ihr weißes Gesicht, im zweiten kämmte sie ihr blondes Haar und aus dem dritten schaute sie heraus, lachte und rief uns zu: ›Kehrt um, ich bleibe hier, solange es mir gefällt!‹« Als der König das gehört hatte, sprach er: »Jetzt könnte ich einen guten Rat gebrauchen!« Da trat der Esel vor den König hin und sagte: »Erlaubt, hoher König, daß ich hinausfahre und eure Tochter hole.« Da lachten die Umstehenden und murmelten untereinander: »Was der Esel sich wohl denkt.« Doch der König fragte: »Woher kommst du?« »Ich komme aus Stiepel im Lande Westfalen«, sagte der Esel. »Ei«, rief der König aus, »so versuche nur dein Glück! Einer deinesgleichen läuft hin und her zwischen dem Rhein und meinen Tulpenfeldern und trägt das Wasser herbei, ein zweiter steht zwischen meinen hundert Windmühlen und bläst, wie es der Wind nicht besser könnte. So fahre du denn hinaus und hole meine Tochter!« Sogleich sprang der Esel in ein Boot. Zwei Diener mußten mit einsteigen, um zu rudern, und über das Meer ging es bis an den Turm. Dort stand des Königs Tochter am Fenster und hatte alles mitangesehen. Sie rief unmutig: »Da schickt mir mein Vater wahrhaftig einen Esel, um mich zurückzuholen!« Und sie beschloß, den Turm nicht zu verlassen. Der Esel aber ließ sich langsam um das Gemäuer fahren, lockerte mit Hufschlägen die Steine und begann ringsum den Turm anzunagen und aufzufressen. Wenn ihm die Steine zu schwer im Magen lagen, spie er sie aus ins Meer und fraß von neuem. Es dauerte nicht lange, da wurde der Turm schwach und wackelte hin und her, und die Königstochter dachte: »Der Esel wird doch nicht den Turm zu Fall bringen und mich elend ins Wasser stürzen lassen?« Und sie bekam es mit der Angst, eilte die Treppe hinab und rief: »Höre auf, an dem Turm zu fressen! Ehe ich ins Wasser stürze, will ich lieber heimkehren zu meinem Vater.« Da ließ der Esel sie in das Boot steigen, und sie fuhren zu dritt dem Strande zu. Dort stieg die Königstochter mit mürrischem Gesicht aus und der König fragte sie: »Was ist dir eingefallen, Tochter, davonzurudern und dich in jenem finsteren Turme einzusperren?« – »Ach Vater«, klagte sie, »ich kann nicht länger diese brütende Hitze ertragen und ansehen, wie alles in Holland dürstet und schmachtet!« Kaum hatte sie das gesprochen, da pfiff ein Windstoß durch die Luft und fern über dem Meere wurden Regenwolken sichtbar. Der Esel sagte: »Mir scheint, es wird bald Regen kommen.« Der König lachte: »Das wäre die höchste Zeit.« Und nun lachte die Königstochter auch. Darauf begaben sich alle in die Königsstadt und der Esel mußte mitgehen und war hoch angesehen. Bald bedeckte sich der Himmel. Nach langen heißen Wochen strömte der Regen hernieder, und ein kühler Wind wehte über das Land. Da sprachen der Gärtner in den Tulpenfeldern und der Müller bei den hundert Mühlen jeder zu seinem Esel: »Komm mit mir! Der König wünscht dich zu sehen.« So geschah es, daß sich die drei Esel vor dem König von Holland wiederfanden und sich voll Freude begrüßten. Der König sprach zu ihnen: »Ihr seid drei wackere Gesellen und habt mir große Dienste erwiesen. Bleibt bei mir im Lande! Ich will euch einen prächtigen Stall bauen lassen und soviel Wiesen geben, wie ihr nur haben wollt!« Die Esel sahen sich an und lachten vor Stolz. Doch dann erwiderten sie: »Holland ist ein schönes Land, Herr König, aber nur in der Heimat kann man glücklich leben. Laßt uns deshalb nach Stiepel in Westfalen zurückkehren!« Da sprach der König: »Wenn ihr Heimweh habt, so will ich euch nicht halten, so leid mirʻs tut.« Und er hing den Eseln jedem eine goldene Kette um den Hals und ließ sie bis an den Rhein geleiten. Nun war ihr Name schon weithin gedrungen, und überall, wo sie erschienen, blieben die Leute stehen und sagten: »Das sind die Esel von Stiepel, die Holland aus Not gerettet und viel Ruhm geerntet haben.« So erreichten die Esel bald den Rhein. Hier nahmen sie von ihren Begleitern Abschied und wanderten allein weiter. Als sie wieder an die Ruhr gekommen waren, trafen sie ihren Bekannten, den Schiffer, der eilte ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. »Willkommen, ihr berühmten Esel!«, rief er aus. »Wohin des Weges?« 

– »Nach Stiepel zurück«, sprachen die Esel, »das ist ja unsere Heimat.« – »So steigt ein bei mir«, sprach der Schiffer, »die Kohlen sind hier abgeladen und mein Schiff fährt leer die Ruhr hinauf.« Da bestiegen sie allesamt das Schiff und fuhren bei gutem Wetter nach Hause. Unterwegs erzählten die Esel, wie es in Holland aussieht und wie die Kinder dort in Holzpantinen umherlaufen. Es dauerte nicht lange, da waren sie unter Lachen und Scherzen bis an die Burg Blankenstein gekommen, wo die Esel aus dem Schiffe sprangen, durch die Ruhr schwammen und vom Stiepeler Strand dem Schiffer ein Lebewohl zuriefen. Unterdessen war in Stiepel Krieg ausgebrochen. Das Dorf war von feindlichen Nachbarn umzingelt und nahe daran, den Kampf zu verlieren. Manch einer sprach da in Stiepel: »Wären nur unsere Esel aus Holland wieder hier, die würden schon wissen, wie uns zu helfen wäre!« Die Esel waren durch den Wald den Hügel hinaufgestiegen und entdeckten plötzlich die Feinde. Da wurden sie zornig, daß ihrer Heimat solche Schande sollte angetan werden, und der erste Esel riß sein Maul auf und brüllte mit aller Lungenkraft so gewaltig, daß die Feinde meinten, das Jüngste Gericht wäre gekommen. Die Erde und die Bäume bebten, alle Flinten gingen los und die Kugeln brachten in den Reihen der Belagerer große Verwirrung hervor; dabei konnte kein Mensch in dem dichten Walde erkennen, was die Ursache wäre. Unterdessen machte sich der Esel mit dem unersättlichen Magen über die Mundvorräte her, die der Feind angehäuft hatte. Im Nu verschlang er alles, wobei ihm seine goldene Kette, die der König von Holland ihm umgehängt hatte, am Halse klirrte. Der Esel mit den starken Beinen aber sprang mutig zwischen die Feinde, teilte nach allen Seiten mächtige Hiebe aus, spannte sich vor das einzige Feldgeschütz und fuhr damit in Stiepel ein. Da wurde es offenbar, daß die Esel von Stiepel zurückgekommen waren. »Hier haben wir nichts mehr zu hoffen«, riefen sich die Belagerer zu und flohen Hals über Kopf davon. Die Stiepeler aber empfingen ihre Esel voller Freude und feierten sogleich das Siegesfest, und die Esel waren die Helden des Tages. Abends wurde um die Dorflinde getanzt und gesungen und die Esel mußten immer wieder berichten, was sie in Holland erlebt hatten.

Anmerkungen

Burg Blankenstein liegt in Hattingen-Blankenstein (siehe Sagen 58f.). Die Ruhr mündet bei Duisburg-Ruhrort in den Rhein. Tatsächlich zogen Pferde, nicht Esel Lastkähne an Stricken (Leinen) die Ruhr aufwärts, abwärts segelten die Kähne, den mit der Schiffbarmachung der Ruhr (1780) wurden die Transportprobleme der Steinkohle, des »Schwarzen Goldes« entscheidend verbessert und gleichzeitig in den Niederlanden neue Absatzmärkte erschlossen. Die Transportschiffe, die sogenannten Aaken, ließ man von Pferden schleppen, die die Kähne auf gepflasterten Uferwegen an Leinen flußaufwärts zogen, daher der Begriff »Leinpfad«. Wer denkt heute noch daran, daß in (Bochum-) Dahlhausen einst ein wichtiger »Kohlehafen« lag und in (Bochum-) Stiepeler Werften Lastkähne gewartet wurden? An der Alten Fähre in Bochum-Stiepel ist der historische Leinpfad deutlich am Ruhrufer als gepflasterter Weg erkennbar.

Stiepeler Dorfkirche (WGS 84: 51.416417° 7.235233°)

Burg Blankenstein (WGS 84: 51.406567° 7.2295°)

An der Alten Fähre (WGS 84: 51.414819° 7.233982°)

Literaturnachweis

  • Vgl. Sondermann, BS, 60–67 (Dieses Märchen sandte mir freundlicherweise Herr H. J. Hensing aus Stiepel, leider ohne Quellenangabe, zu.)


Hier finden Sie: Stiepeler Dorfkirche (51.416417° Breite, 7.235233° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Ruhrsagen. Von Ruhrort bis Ruhrkopf.
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2005
ISBN 3-922750-60-5.





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