Der falsche Alhasver

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Ahasver - ca. 1910

Alten Erzählungen nach soll Ahasver, der ewige Jude, ein Anhänger der Schriftgelehrten gewesen sein. Es heißt, er habe Christus, als dieser sich beim Kreuzesgang kurz an sein Haus lehnte, um auszuruhen, zugerufen: »Pack dich und geh’ dorthin, wo du hingehörst!« Christus habe ihm darauf scharf in die Augen gesehen und einen Fluch über ihn gesprochen: »Ich will stehen und ruhen, du aber sollst für immer ruhelos umherirren!« Seit dieser Zeit ist Ahasver dazu verdammt, rastlos durch die Welt zu ziehen.

»Zwischen Höntrop und Wattenscheid stand in früheren Zeiten, abseits im grünen Wiesengrunde, eine Mühle. Längst haben die Zechenherren dem braven Müller das Wasser abgegraben, so dass er wandern musste. Wohin er gezogen ist, ich weiß es nicht. Die alten Leute haben seine Spur verloren, und wir Jungen werden sie nicht wieder finden.

Aber unsere Alten wissen noch, dass jener Müller ein Töchterlein hatte, das ungemein wohlgefiel, weil es sich in gleicher Weise durch Liebreiz des Körpers und der Seele auszeichnete. Doch kein Freier vermochte seine Hand zu gewinnen, obschon sie zu Hauf kamen von nah und fern, denn der Rechte war nicht unter ihnen. Da kam eines Tages ein Spielmann aus den Niederlanden des Weges und spielte in Städten und Dörfern seine Weisen. Kam auch auf den Mühlenhof und strich seine Fiedel, bald lustig, bald traurig, – wie’s ihm ums Herze war. Und die Mahlkästen klapperten ihren strengen Takt dazu. Der Müller lohnte das Ständchen mit einem blanken Silberstückchen und der Spielmann zog dankbar seine Straße, – gen Höntrop zu.

Hinter der roten Geranienhecke vor dem Fensterbrett aber stand des Müllers Töchterlein und schaute dem Spielmann nach.Vater und Mutter, Knechte und Mägde mochten denken: Ein Spielmann wie alle andern, die an der Landstraße ihre Sohlen ablaufen. Was liegt daran! – Aber dem Mägdlein war, als habe der Spielmann ihm mit seinem Spiel das Herz umgewendet und es in unbequemer Lage liegen lassen, so dass es sie schmerzte. – Was war doch mit ihr vorgegangen, während er seine Fiedel strich und sie durch die Geranienstöcke unverwandt auf seine niedergeschlagenen Augen blickte? – Nun war er gegangen, und ihre Blicke hingen an seinen Fersen, bis er in Wiesen und Feldern verschwunden war.

Der Spielmann hatte mit seinen Liedern des Mägdleins Herz entzündet.Mit tausend anderen machte er es vielleicht ebenso. Spielmannsblut ist keiner Treu’ gewohnt. Schlag’s dir aus dem Sinn, Mägdelein! Was liegt daran!

Das war leichter gesagt denn getan, denn um des Mägdleins Ruh war es geschehn. Ach, wie träge gingen die Stunden dahin, – und jede führte ihn weiter fort! Es wartete auf die Nacht. Sie sollte Erlösung bringen. Mitten in der Nacht machte es sich auf, ihn zu suchen. Dorf und Stadt lagen finster, denn noch standen nicht die Feuer der Hochöfen wie rote Fackeln am nächtlichen Himmel. Es lief durch Wiesen und Felder. Der schwere, berauschende Duft der Maienblüte lag über Hecken und Gärten. An einem Feldrain blieb es stehen, denn es war ihm, als hörte es ein Klingen wie von einer Aolsharfe. Es war der Wind, der in des Spielmanns Geige sang. Er selber lag und schlief im duftenden Klee. Da neigte sich das Mägdlein tief über ihn und betrachtete lange sein Angesicht, als sollte es sich ihm auf ewig einprägen.

Da konnte sich das Mägdlein nicht länger enthalten, den halb geschlossenen Mund des Spielmanns zu küssen. Er aber drückte die holde Gestalt an sein Herz, ohne seine Augen aufzuschlagen, denn er glaubte, alles sei ein Traum. – Und der silberne Mond schien über die beiden. Glühend vor Scham hatte sich das Mägdlein aus seinen Armen gerissen, sprang den Rain hinunter und behände wie ein Reh dem Dorf und der Mühle zu.

Ein hämischer Bauer, der zur Nachtzeit seine Schlingen absuchte, hatte alles gesehen, ohne jedoch das Mägdlein erkannt zu haben. Den Spielmann aber erkannte er im Näherkommen, als er sich gerade verwundert die Augen rieb und gar nicht fassen konnte, was ihm geschehen war.

Der hämische Bauer aber machte am Morgen ein großes Geschrei im Dorfe und klagte den Spielmann arger Missetat an. Er locke Frauen und Töchter zu nachtschlafender Zeit hinaus und nehme ihnen die Ruh, die er zu seiner Ruhe brauche. Schließlich behauptete der Bauerntölpel, der Spielmann wäre der ewige Jude, den unser Herr und Heiland seiner Hartherzigkeit wegen verflucht und zu ewiger Wanderschaft verdammt. Alljährlich brauche er einen unschuldigen Mädchenleib, an dem er sich verjünge. Und da der ewige Jude damals wirklich durch Deutschland reisen und verschiedentlich gesehen worden sein sollte, so fand der Kläger Glauben. Und frühe, bald nach der Hahnenkrat, wurde der unschuldige Spielmann von den empörten Bauern gefangen.

Vergebens beteuerte er seine Unschuld. Er kam vor den Richter. Der befahl ihm bei seiner Seelen Seligkeit, den Namen seiner nächtlichen Buhle zu nennen, die zum ihm hinaus an den Feldrain gekommen. Das konnte der Spielmann nicht, denn er glaubte immer noch, alles sei ein Traum gewesen. Der Richter aber fackelte nicht lange und verurteilte den »hergelaufenen Mannskerl« zum Strick, wollte ihm jedoch das Leben schenken, wenn er den Namen seiner Buhle nennen und somit erweisen würde, dass alles mit natürlichen Dingen zugegangen.

»Er wird nicht zum Sterben kommen«, flüsterte der Pfarrer dem Richter über die Schulter ins Ohr, »denn in der heiligen Legende steht, er solle ewig wandern.«  Doch die Höntroper waren entschlossen, das Ende auf alle Fälle in Ruhe abzuwarten. Die Stunde des Gerichtes rückte heran. Das seltene Schauspiel hatte die Neugierigen aus nah und fern herbeigelockt. Unter dem Galgen bat der Spielmann seinen Henker um die letzte Gnade: Noch einmal wollte er seine Geige spielen. Es wurde ihm gewährt, und er spielte just dasselbe Lied, das er vor der Mühle im fernen Wiesengrund gespielt hatte, – als plötzlich ein Mägdlein im weißen Gewand unter dem Galgen stand.

»Ich beschwöre euch, hört mich an! Es ist meine letzte Botschaft an die Welt, denn morgen trete ich ins Kloster. – Diese Seele ist unschuldig wie ich selber bin. Ich bin es, die ihn in der Nacht gesucht. Nichts Arges ist geschehen, von dem allein die bösen Zungen voll sind. – Ihr habt sein Lied gehört. Wem hat es nicht das Herz gerührt, der keinen Stein in der Brust hat?« 

Also sprach das Müllerstöchterlein. Und ein tiefes Schluchzen ward laut in der Runde. Das Mägdlein aber ging und wurde nicht wieder gesehen, denn es hatte ein Gelübde getan, um den Spielmann vom Galgen zu erretten.

Der war nun frei, denn das Mägdlein hatte für seine Unschuld gezeugt. Nun wusste er, dass ihn ein Herz auf Erden liebte. Denn er, der von Frühling und Liebe sang und den Liebenden zum Tanze spielte, war ungeliebt seine Straße gezogen. Die Höntroper ließen es sich nicht nehmen, den dem Leben neu Geschenkten nun festlich zu bewirten. Seine Geige sang ihnen Dank. Doch seine Gedanken waren bei dem fernen Mägdlein, das ihm, kaum gegeben, wieder genommen war, – genommen auf ewig, um seinetwillen, dass es ihn von schimpflichem Tode errette. Wohl spielte er in den folgenden Nächten seine schönsten Weisen vor der Mühle im Wiesengrunde. Sie aber hörte es nicht. Fern nach den Niederlanden ist sie gezogen, wo du, Spielmann, hergekommen, und betet für deine ewige Ruhe.« 

Anmerkungen

Heinrichs: Heute steht an der Stelle, wo damals die hübsche Müllerstochter ihren schlafenden Spielmann getroffen haben soll, eine Tankstelle (Berliner Straße 96-98). Der Galgen stand im Haverfeld.

Die schon um 1686 urkundlich erwähnte Westenfelder Mühle stand am Straßendreieck Ridderstraße, Westenfelder Straße und Am Mühlenteich. Die Mühle wurde 1919 stillgelegt und später abgerissen. Zwei große Mühlsteine des Betriebes aus Andernacher Basaltstein sind heute noch am Eingang des Gemeindezentrums Westenfeld an der Ridderstraße 40 zu betrachten, das links hinter dem ehemaligen Mühlenhaus errichtet wurde. 1926/27 ist der von der Hasselte und Radbecke gespeiste Mühlenteich bei der Verbreiterung der Westenfelder Straße zugeschüttet worden. Man erkennt den trockengelegten Teich noch als tiefergelegenes Geländestück.

Gemeindezentrum Westenfeld (WGS 84: 51.468923° 7.14467°)

Literaturnachweis

  • Grasreiner, 1925, 166-170 (Adolf Wurmbach, Lehrer, Gelsenkirchen);
  • Heinrichs, 42-44;
  • vgl. Bröker, 1989, 164f.;
  • vgl. Bröker, 1996, 80


Hier finden Sie: Gemeindezentrum Westenfeld (51.468923° Breite, 7.14467° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Wattenscheider Sagenbuch.
Essen: Verlag Pomp, 2004
ISBN 3-89355-248-0.



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