Das Riesenfräulein

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Skulptur eines Riesen

In einem kleinen Dorf am Niederrhein, wo das Land flach ist wie ein Pfannkuchen, lebte vor Zeiten ein Bauer, der so geizig war, dass niemand, mochte er auch noch so hilflos und elend erscheinen, bei ihm auf eine Gabe hoffen konnte. In der Nähe seiner Besitzung lag das »Meer«, die teichähnliche Verbreiterung eines Grabens, der sich hinter seinem Garten zog. Der Teich wimmelte von wohlschmeckenden Fischen. Das wusste die ganze Umgegend. Aber so geizig wie der Bauer mit seinem Gelde war, war er auch mit seinen Fischen.

Da gab es einmal ein großes Fest auf der Riesenburg bei Wallach am Rhein. Die anwesende Riesensippe hatte einen guten Appetit entwickelt. Alle Vorräte waren aufgegessen, als die Dame des Hauses zu ihrer Tochter sprach: »Ellenland, mach dich auf und gehe zu dem Bauer, der am See wohnt, und hole uns einige schmackhafte Fiche.«

Der Bauer stand gerade in seiner Haustür, als das Riesenfräulein mit großen Schritten auf den Hof zu kam und ihm zurief: »He, Bauer, fangt mir einige Fische aus eurem »Meer« und gebt sie mir. Auf der Burg ist ein großes Fest. Es fehlt an Fleisch!« – Der Bauer versetzte: »Ich habe keine Fische, mach, dass du fortkommst!« – Das Riesenfräulein ließ sich aber nicht ohne weiteres abweisen: »Wenn ihr keine Fische habt, so braucht ihr auch kein ‚Meer’!« Sprachs und zog von dannen.

Dem Bauer aber ward ob der Drohung angst. Die Fische hatten ihm Jahr für Jahr ein nettes Sümmchen Geld eingebracht. Jetzt sollte das Geschäft wohl für immer ein Ende haben. Das Riesengeschlecht hatte den Menschen schon allerlei Schabernack gespielt. Der Bauer lief in seiner Angst zu einer bekannten Hexe, um Rat und Hilfe zu erbitten. Die Hexe aber war schlau. Sie sagte zum Bauern: »Das geht nicht so von ungefähr; da müsst ihr fein aufpassen. Um Mitternacht, wenn alles im tiefen Schlummer liegt, müsste ihr ans Fenster treten und auf den mittleren Deichselstern des großen Wagens schauen und dies Sprüchlein beten:

Sternlein, Sternlein in der Höh’,
schütze mich vor Leid und Weh;
schütze Haus und Teich und Land
vor der bösen Riesenhand!«

Die Hexe strich ihren Lohn, den sie nicht zu gering bemessen hatte, ein, und der Bauer zog etwas besser gestimmt nach Hause. Die Nacht rückte heran. Des Bauern Angst stieg immer höher. Draußen tobte Regen und Sturm. Keine Menschenschritte waren zu hören. Er schlich sich ängstlich zum Fenster und suchte nach dem bewussten Stern. Dann betete er sein Sprüchlein her und kroch wieder in die Federn.

Mit dem kommenden Morgen erwachte von neuem seine Angst. Ob es das unruhige Gewissen war, das den Geizkragen peinigte, wer will das sagen? Kurzum, er ging noch einmal zur Hexe. Jetzt sagte sie ihm: »Es kann sein, dass das Riesenfräulein diese Nacht kommt. Immerhin ist es gut, wenn ihr noch einige Goldstücke opfert.« – Die Hexe wusste bestimmt, dass der Bauer große Schätze hatte. Sie suchte so die Gelegenheit auszunutzen. Der Bauer gab den doppelten Betrag und ging beruhigt nach Hause. Aber auch in dieser Nacht war nichts Auffälliges zu spüren. Kein Riesenfräulein nahte dem Gute. Der Bauer betete vergeblich sein Bannsprüchlein her. Aber er bekam in der Nacht schweres Alpdrücken, wie er es wohl noch nie gehabt hatte.

Mit dem dritten Tage stieg seine Angst aufs höchste. Er ging noch einmal zu r Hexe und begann zu schimpfen und zu poltern, als sie ihn beruhigte und zusagte, dass er das Riesenfräulein wohn in dieser Nacht bannen würde. Wieder musste er einen bedeutenden Geldbetrag opfern. Dann ging er nach Hause und legte sich schlafen. Um Mitternacht begab er sich wieder ans Fenster und leierte sein Sprüchlein. Als er am Morgen erwachte, war sein Angstgefühl gänzlich gewichen. Er ging hinaus und sah zu seiner Verwunderung, dass in der Nähe deiner Besitzung ein großer Sandhaufen lag. Flugs schlich er sich zur Hexe und fragte nach, was es damit für eine Bewandtnis habe. . »Mit dem Sandhaufen«, sagte die Hexe, »wollte das Riesenfräulein das ‚Meer’ zu schütten. Das Fräulein ist aber nicht so weit gekommen. Der Bannspruch tat seine Wirkung, indem Sand und Kies immer schwerer wurden. Sie Schürzenbänder der Riesin lösten sich und die Last fiel auf das freie Feld.«

Die Geschichte wurde bekannt und der Bauer wurde von da ab »der Hexenbauer« genannt. Von seinem Geiz ist er geheilt worden. Der Kies- und Sandhaufen hat unter den Namen Karnickelsberg noch bis in die jüngste Zeit gelegen und läge noch da, wenn ihn nicht ein Nachkomme des Hexenbauers beim Errichten einer Scheune abgetragen hätte.

Anmerkungen

Zur Riesenburg bei Wallach und zum Karnickelsberg haben wir keine Informationen finden können.

Literaturnachweis

  • Karl Heck, Heinrich Peitsch, Es geht eine alte Sage, Sagen, Legenden und Erzählungen vom unteren Niederrhein, Wesel 1967, S. 37-39 (nach: Heimatspiegel)




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Diese Sage ist in den bisher erschienen Werken von Dirk Sondermann nicht enthalten. Von ihm erschienen die Bücher Ruhrsagen, Emschersagen, Bochumer Sagenbuch, Wattenscheider Sagenbuch und Hattinger Sagenbuch. Weitere Publikationen sind in Vorbereitung. Bitte beachten Sie auch unsere Veranstaltungshinweise.


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